02/07/2024 0 Kommentare
Von Lionel Messie, einer ungewöhnlichen Lieblingsorgel und dem Biedenkopfer Taufstein: Der scheidende Dekanatskantor Johann Lieberknecht im Interview
Von Lionel Messie, einer ungewöhnlichen Lieblingsorgel und dem Biedenkopfer Taufstein: Der scheidende Dekanatskantor Johann Lieberknecht im Interview
# DigitalesDekanat - Musik+Kunst
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Von Lionel Messie, einer ungewöhnlichen Lieblingsorgel und dem Biedenkopfer Taufstein: Der scheidende Dekanatskantor Johann Lieberknecht im Interview
Am Pfingstsonntag ist Johann Lieberknecht als Dekanatskantor in der Biedenkopfer Stadtkirche verabschiedet worden. Nach seinem "CREAcTION"-Abschiedskonzert am 1. Juni geht es nahtlos weiter in Herborn. Was ihn dort erwartet, was seine persönlichen Höhepunkte der vergangenen fünf Jahre waren und vieles mehr hat verrät er in diesem Interview.
Was wollten Sie als Kind werden? Lokführer, Schornsteinfeger oder tatsächlich schon Kirchenmusiker?
Als Kind mal eine Zeit lang Polizist, aber als es auf den Schulabschluss zuging, tatsächlich Kirchenmusiker.
Die wenigsten Menschen dürften wissen, was ein Dekanatskantor so macht. Wie sieht ein typischer Arbeitstag aus?
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Das „typische“ an meinem Arbeitstag ist, dass es keinen „typischen“ Arbeitstag gibt – jeder Tag ist komplett anders. Insgesamt sind es etwa 60 Prozent Schreibtischarbeit: Mails, Organisation, Konzertplanungen, Fachberatung und so weiter. Ein großer Teil der für andere gar nicht sichtbaren Arbeit ist im Vorhinein von Konzerten die Programmgestaltung: passende Stücke raussuchen, Noten besorgen oder umschreiben, Probenpläne erstellen, Instrumentalisten engagieren etc. Und auch kleinere Anlässe – wenn zum Beispiel ein paar Konfis etwas im Gottesdienst spielen wollen – erfordern in Sachen Notenumschreiben, Sätze arrangieren, Proben terminieren und durchführen oft einen gar nicht so kleinen Aufwand.
Etwa 20 bis 30 Prozent der Zeit sind wirkliche musikalische Arbeit mit anderen Menschen, etwa Singen in der Kita, Proben mit Kantorei/Projektchor/Kirchenorchester/Kinderchor und natürlich Unterricht mit aktuell sieben jungen Orgelschülern und -schülerinnen. Der Rest sind Sitzungen/Gremienarbeit, und wenn es gut läuft, noch die eigene musikalische Vorbereitung; sprich: üben.
Nach Ihrer ersten Stelle an der Elisabethkirche in Marburg waren Sie jetzt fünf Jahre im Evangelischen Dekanat Biedenkopf-Gladenbach (Einführung 19.6.19) und in der Kirchengemeinde Biedenkopf, mit je einer halben Stelle.
Was war Ihr Plan für diese fünf Jahre, welche Projekte wollten Sie angehen?
Der Aufbau einer Kantorei, die auch dekanatsweit wahrgenommene Konzerte größerer Art – das heißt, mit Orchester – aufführt, war sicherlich eine Priorität. Daneben war mein Ziel, möglichst in allen Ecken des Dekanats bekannt zu werden und so Menschen für die Kirchenmusik zu begeistern, was sich zum Beispiel in Sachen Orgelschüler recht erfreulich entwickelt hat.
Was ist umgesetzt worden, was durch Corona ausgebremst, was an anderen Faktoren gescheitert?
Mein Bemühen, innerhalb eines Jahres in jeder Gemeinde des Dekanats einmal präsent zu sein, habe ich wegen Corona leider auf halber Strecke einstellen müssen, und auch die „Netzwerkbildung“ wurde durch die vielfältigen Maßnahmen natürlich sehr erschwert. Ebenso der Aufbau eines Kinderchores, der in diesem Falle dreimal neugestartet werden musste…
Als einen anderen – ganz praktischen – Hinderungsgrund habe ich tatsächlich den Taufstein in der Stadtkirche erlebt, der ironischerweise am selben Tag wie ich feierlich „wiedereingeweiht“ wurde...bei allem Respekt vor der Bedeutung und Historie dieses wunderbaren Taufsteins nimmt er aus Sicht eines Kirchenmusikers leider sehr viel Platz an einer Stelle weg, wo man für Konzerte eigentlich gerne Sänger bzw. Orchestermusiker hinplatziert hätte… ;-)
Und was war das Konzert-Highlight dieser fünf Jahre?
Sicherlich die Aufführungen der Schütz-Exequien 2022 und des Fauré-Requiems 2023, beides in kollegialer Zusammenarbeit mit Christian Stark, dem ich dafür nochmal danken möchte.
Die Einschränkungen durch Corona hat gut die Hälfte der Zeit in Biedenkopf geprägt. Wie sind Sie damit umgegangen? Würden Sie heute etwas anders machen?
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Ich habe, wie alle anderen auch, versucht, mit anfangs etwas unbeholfenen Mitteln das Beste draus zu machen und die Verbindung zum Beispiel zum Chor aufrecht zu erhalten. Ich erinnere mich an sehr unbefriedigende Zoom-Chorproben, Singen mit Abstand, zwanghaftem Lüften und dauerndes Testen. Singen mit Maske habe ich als selbstwidersprüchliche Absurdität immer vermieden. Immerhin ist zu Weihnachten 2020 aus der Not heraus eine schöne CD mit der Beteiligung vieler Musiker und Sänger aus Biedenkopf entstanden, die Wolfgang Hoffmann maßgeblich mitgestaltet hat. Und auch einige Videoformate sind im Nachhinein gar nicht so schlecht geworden, auch wenn sie, wie im Falle der Orgelrätselreise, doch einen großen nicht-musikalischen Aufwand mit sich brachten.
Durch die Orgelrätselreise auf YouTube haben Sie fast alle Kirchen im Dekanat kennengelernt. Können Sie fünf Lieblingsorgeln oder fünf ganz besondere im Dekanat benennen?
Ja, neben der Orgel in Biedenkopf wären das zunächst Friedensdorf und Allendorf/Eder, an denen ich wegen ihrer relativen Größe und Vielseitigkeit gerne unterrichte. Außerdem ist die Emmauskapelle in Hatzfeld zu nennen, deren historische Orgel eine wirkliche überregionale Besonderheit ist; und dann kommt in meine Liste – untypischerweise – tatsächlich sogar eine E-Orgel, und zwar die äußerst hochwertige und sehr angenehm zu spielende im Wichernhaus Bischoffen.
Wie sehen Sie die Kirchenmusik im Dekanat BiG aktuell aufgestellt? Wie steht es um die Posaunenchöre, wie um Kirchenchöre, um Organisten und Orgelschüler?
Das hängt natürlich davon ab, ob und wie lange eine Vakanzzeit herrschen wird – eine lange Pause wäre für keinen Bereich ideal. der Kantorei weiter. Im Moment ist die klassische Kirchenmusik mit der einsatzfreudigen Kantorei, die während der Vakanz mit Christian Stark weiter probt, und den zahlreichen jüngeren Orgelschülern relativ gut aufgestellt. Natürlich bräuchte es sowohl bei Organisten als auch bei Chorsängern und -leitern noch mehr Nachwuchs; bei den Posaunenchören bereitet der Nachwuchsbereich ebenso Sorgen, auch wenn hier die Tendenzen zur Kooperation zwischen Bläserkreisen schon weiter fortgeschritten ist als bei Sängerchören.
Haben Sie ein kirchenmusikalisches Lieblingswerk? Haben wir das erleben dürfen oder können die Menschen im Nachbardekanat an der Dill darauf hoffen?
Ja, mein absolutes Herzenswerk ist nach wie vor das Requiem von Brahms, das aber wegen der benötigten Größe von Chor und Orchester nicht so leicht aufzuführen ist...
Was werden Sie vermissen, wenn Sie zurückdenken an die Arbeit in den vergangenen fünf Jahren? Und auf was blicken Sie stolz zurück?
Vermissen werde ich die treuen Mitsänger und -sängerinnen im Chor sowie die gute Stimmung auf Dekanatsebene sowie die Unterstützung durch die Dekanatsleitung; „stolz“ wäre vielleicht zuviel, aber ich kann doch recht zufrieden sein, dass sich meine Bemühungen um Bekanntwerden als Dekanatskantor nach der Coronazeit ausgezahlt hat: Ich habe in den letzten Monaten/Jahren schon gemerkt, dass ich immer selbstverständlicher der Ansprechpartner für viele Anfragen aus allen Nachbarschaftsräumen wurde, was ja einer der Hauptzwecke dieser Stelle ist.
Und auf was freuen Sie sich jetzt schon, was Sie in Herborn erwartet?
Auf eine Kirche mit mehr Platz, auf etwas mehr gewachsene Strukturen wie einen Kirchenmusik-Ausschuss und einen Förderverein und auf etwas weniger verschiedene kleine Aufgabenbereiche – es wird vermutlich etwas mehr Fokussierung auf den künstlerischen Bereich geben. Außerdem bin ich natürlich positiv gespannt auf die Arbeit mit den Vikaren im Theologischen Seminar.
Wen würden Sie gerne mal treffen oder kennenlernen?
Ziemlich viele Leute, die ich bewundere, von J.S. Bach über Helmut Schmidt bis zu Lionel Messi.
Nach Ihrer ersten Stelle an der Elisabethkirche in Marburg waren Sie jetzt fünf Jahre im Dekanat Biedenkopf-Gladenbach und in der Kirchengemeinde Biedenkopf, mit je einer halben Stelle. Inwiefern unterscheiden sich die beiden Stellenanteile voneinander? Ist es schwer, Gemeindeebene und Dekanat miteinander zu vereinbaren?
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Das Büro im Biedenkopfer Gemeindehaus leert sich bereits: Im Juni geht es für Johann Lieberknecht in Herborn weiter. (Foto: Klaus Kordesch /eöa)
Ja, die Unterscheidung zwischen Gemeinde- und Dekanatsbereich war für mich oftmals schwierig, weil erstens schwer zu differenzieren und zweitens in meinen Augen oftmals müßig. Da ich in meiner Person beides vertreten habe, konnte ich oftmals nicht trennscharf sagen, ob dies oder jenes jetzt die eine oder die andere Eben war. Ein bisschen weniger „Kirchturmblick“ täte der Sache meiner Meinung nach manchmal gut...und in dieser Hinsicht habe ich zum Beispiel unsere Geschwister aus den FeGs als sehr unkompliziert wahrgenommen, die selbstverständlich auch in unserer Dekanatskantorei mitgesungen haben.
Wir haben ja schon über den typischen Tagesablauf gesprochen. Was zählt noch zu den Aufgaben eines Dekanatskantors, vor allem auf der strategisch-planerischen Ebene?
Zu den langfristigen Aufgaben gehört der Aufbau eines Netzwerkes mit anderen Musikern. Stichwort: Wo kriege ich kurzfristig eine Aushilfe her? Und dann muss vor allem die Konzertplanung immer strategisch aussehen: Was kann ich mit welcher musikalischen Gruppe bei wievielen Proben wann wie wo aufführen, sodass es inhaltlich kohärent, weder über- noch unterfordernd, für Mitwirkende wie Publikum hinreichend attraktiv, in langfristiger Hinsicht entwicklungsfördernd, im finanziellen Rahmen darstellbar und dann noch dem eigenen Anspruch halbwegs gerecht wird? Das sind eine Menge Punkte zu beachten...
Was erwartet Sie beruflich in Herborn? Welche Aufgaben übernehmen Sie in der Gemeinde, welche im Theologischen Seminar?
Meine Aufgaben in der Stadtkirche Herborn liegen in der musikalischen Begleitung der Gottesdienste sowie der Leitung der Kantorei und des Singkreises, verbunden mit der Gestaltung von Konzerten. Ein Drittel meiner Stelle wird im Theologischen Seminar angesiedelt sein, wo ich den angehenden Pfarrpersonen der EKHN ein bisschen Singen, Kirchenmusik und Liturgie vermitteln darf.
Haben Sie Herborn schon mal privat besucht? Was haben Sie kennengelernt, was gefällt Ihnen da besonders?
Ja, auch mit meiner Frau. Reizvoll ist natürlich die immerhin doch recht lebendig gebliebene Altstadt mit ihrem theologiehistorischen Flair sowie als bauliches Highlight das Schloss. Dazu kommt die – trotz der schönen Landschaft – gute Anbindung und die Sprache der Leute, die ich wirklich mag ;-)
Wo ist künftig der Wohnsitz? Ziehen Sie mit Ihrer Familie nach Herborn um oder bleiben Sie in Marburg?
Da meine Frau als Grundschullehrerin erst in einem dreiviertel Jahr nach der Babypause wieder einsteigt, müssen wir dann mal schauen, ob und wo eine Stelle für sie frei wird; das heißt, ich werde zunächst mal pendeln. Im Moment hat Marburg auch familiär gesehen noch relativ viele Vorteile, aber wir schauen mal, wie sich das in einem halben Jahr gestaltet.
Die meisten Menschen in Herborn und im Dekanat an der Dill werden Sie vor allem über Konzertereignisse wahrnehmen. Gibt es da schon Planungen und Projekte, auf die man sich freuen kann?
Die Konzertplanung ist noch nicht so ganz konkret, aber im Oktober/November werde ich mit der Kantorei im Rahmen von „Klingende Kirche“ einen musikalischen Gottesdienst gestalten, und am 4. Advent plane ich ein größeres Adventskonzert mit einem vor allem barocken Programm.
Die bisherige Stelle ist neu ausgeschrieben, es liegen auch schon Bewerbungen vor. Haben Sie einen oder mehrere Tipps für Ihre Nachfolgerin / Ihren Nachfolger? Was könnte er/sie falsch machen oder falsch einschätzen? Was sollte er / sie aufgreifen/wertschätzen oder nicht unterschätzen?
Das ist schwer zu sagen – jeder hat seine eigenen Stärken, und vielleicht fällt ihm/ihr ja das in den Schoß, worin ich vielleicht hätte weiterkommen können – zum Beispiel mehr Erfolg bei der Kooperation mit den Schulen in Biedenkopf. Insgesamt wird die Arbeit in Zukunft angesichts der Nachbarschaftsräume vielleicht noch weniger zentral ausgerichtet sein und noch mehr Vernetzung über Gemeindegrenzen hinweg erfordern.
Wer in Chören singt oder ein Instrument spielt, ist ehrenamtlich und ohne Entgelt unterwegs. Ist die Kirchenmusik eigentlich auch für Sie noch Hobby oder sammeln Sie Briefmarken?
Briefmarkensammeln habe ich ehrlich gesagt nie verstanden...am ehesten wäre es bei mir noch Sport, vor allem Fußball und Snooker, den ich selten aktiv und ab und zu passiv - also auf der Couch - „praktiziere“, aber bei drei kleinen Kindern bleibt ehrlich gesagt kaum Zeit dafür...
Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für den Start in Herborn!
Das Interview mit Johann Lieberknecht führte Klaus Kordesch, der Öffentlichkeitsreferent des Evangelischen Dekanats Biedenkopf-Gladenbach.
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